Weltverbesserung 4.0
„Wie kann ich die besten Autos der Welt bauen und wie muss das Produktionssystem dafür aussehen – darum hat sich bei mir eine Zeit lang alles gedreht.“ Julia Arlinghaus blickt mit einem kleinen Schmunzeln auf ihr früheres Selbst zurück. Denn inzwischen haben sich ihre beruflichen Ziele und auch ihre Sicht auf die Welt geändert. Direkt nach dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Bremen und Tokio promovierte sie an der Universität St. Gallen in der Schweiz und stieg als Beraterin bei Porsche Consulting ein. Als sie anschließend als Professorin an die private Jacobs University Bremen wechselte, unterrichtete sie Studierende aus über 100 Nationen – darunter auch einige Stipendiatinnen und Stipendiaten, die ohne Strom und fließendes Wasser aufgewachsen waren. „Einige kamen nach der Vorlesung zu mir und sagten, meine Vorträge über die Produktion der Zukunft wären ja toll. Aber eigentlich würden sie doch lieber lernen, wie sie ein funktionierendes Transportsystem in Simbabwe aufbauen oder wie sie die Logistik in Flüchtlingslagern verbessern könnten“, erinnert sie sich. „Da merkte ich: Die Produktion von schnellen Autos ist nicht genug für die Studierenden. Sie wollten mehr.“
Heute ist die 37-Jährige Professorin für Produktionssysteme und -automatisierung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und leitet gleichzeitig das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF. Vor einem Jahr ist sie von Bremen nach Magdeburg umgezogen. Das Corona-Virus hat zwar einige ihrer Pläne durcheinandergewirbelt, aber inzwischen fühlt sie sich in der Elbestadt zuhause; der Sohn hat sich in der Kita eingelebt und auch für das Pferd ist ein Hof gefunden. „Der Sport ist für mich sehr wichtig“, betont Arlinghaus, die auf dem Pferderücken den Alltag hinter sich lassen kann.
Erster klimaneutraler Kontinent
Als Wissenschaftlerin bewegen sie einige der großen Fragen unserer Zeit: Wie kann der Standort Deutschland trotz hoher Lohn- und Materialkosten im globalen Wettbewerb bestehen? Wie können Arbeitsplätze langfristig erhalten bleiben? Wie ist die Fabrik der Zukunft strukturiert, organisiert und wie wird sie gesteuert? Und wie gelingt eine klimafreundliche industrielle Produktion? „Europa möchte der erste klimaneutrale Kontinent werden – das ist auch eine große Motivation für unsere Arbeit.“ Denn Klimathemen, davon ist Julia Arlinghaus überzeugt, werden langfristig immer wichtiger. „Deshalb gehe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in die Unternehmen. Wir unterstützen bei der Optimierung von Wertschöpfungsnetzwerken und gestalten Lieferketten so, dass nichts verschwendet wird.“ Wenig Wartezeiten und geringer Ausschuss bei maximaler Ressourceneffizienz – das sind die Ziele, wenn sie die Produktionswege großer Fabriken auf Herz und Nieren prüft. Neben energieeffizienten und resilienten Fabriken sind erneuerbare Energien und grüner Wasserstoff die wichtigsten Bausteine für die Klimaziele, mit denen die Produktionsnetzwerke fit für die Zukunft gemacht werden.
Doch auch ihre Studierenden von damals hat Julia Arlinghaus nicht vergessen. „Seitdem habe ich Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Teil meiner Forschung gemacht“, erzählt sie. „Der Begriff hat verschiedene Aspekte. Das Ökologische muss gleichberechtigt mit dem Sozialen und dem Ökonomischen betrachtet werden.“ Die Zukunft ökonomischen Erfolgs – und das ist vielleicht ein ungewöhnlicher Blick – sieht Julia Arlinghaus gerade auch dort, wo wenig Geld zur Verfügung steht. „The Bottom of the Pyramide“, nennt sie das Konzept, das Geschäftsmodelle beschreibt, die Menschen mit sehr wenig Einkommen und Vermögen einbeziehen. Bottom of the Pyramide – damit ist die unterste Ebene der weltweiten Einkommenspyramide gemeint. Der Großteil der Menschen hat nur sehr wenig Geld zur Verfügung. „Rund zweieinhalb Milliarden Menschen müssen mit 2,50 Dollar am Tag auskommen“, erklärt die Forscherin. Trotzdem seien gerade diese Märkte interessant – auch für deutsche und europäische Unternehmen. „In den Industrieländern sind die Märkte gesättigt“, erklärt sie. „Fast jeder hat ein Auto, einen Fernseher oder ein Smartphone. Gerade in den ärmeren Ländern dieser Welt gibt es eine wachsende Nachfrage nach Konsumgütern.“
Mit Wirtschaft Armut bekämpfen
Für Julia Arlinghaus ist das Ziel klar: Die noch wenig beachteten Märkte in Afrika, Südostasien oder Mittelamerika sollten stärker ins Bewusstsein der Unternehmen rücken. Wenn dabei nicht nur die Gewinnmaximierung im Vordergrund stehe, sondern das Nebeneinander von wirtschaftlichem Erfolg und einer nachhaltigen Entwicklung, dann könne das allen helfen. Es geht um die Bekämpfung der Armut – und damit dem ersten der „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen. Damit sich der ökonomische Erfolg auf den zukünftigen Wachstumsmärkten der Entwicklungs- und Schwellenländer für Unternehmen und Bevölkerung gleichermaßen auszahlt, müssen die Geschäftsmodelle und eben auch die Produktions- und Logistikstrategien an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Dafür ist ein Umdenken notwendig, denn das schnellste Auto, das edelste Material oder ein Gerät mit den neuesten technischen Raffinessen sind dort, wo Armut den Alltag prägt, wenig gefragt.
In Industrieländern spielt Automatisierung in der Produktion eine wichtige Rolle. In Entwicklungsländern muss diese auf das Wesentliche heruntergebrochen werden. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Stattdessen geht es um Waren, die an die Lebenswirklichkeit der Menschen angepasst sind, die ohne teures Material herzustellen, langlebig, leicht zu reparieren und idealerweise auch vor Ort produzier- oder montierbar sind. Dass dieses Konzept erfolgreich sein kann, zählt Julia Arlinghaus an einigen Beispielen auf: „Es gibt große globale Unternehmen, die sehr erfolgreich in diesen Märkten sind, ebenso wie lokale Kleinunternehmen, die vor Ort entstehen und produzieren und so zur Armutsbekämpfung beitragen.“ Da wäre zum einen der US-amerikanische Megakonzern General Electric. Für Entwicklungsländer stellt das Unternehmen spezielle medizinische Geräte wie Röntgenapparate oder Inkubatoren für Frühchen her. Die Geräte sind äußerst robust, kosten einen Bruchteil des Preises, der in Industrienationen bezahlt wird. „Das ist möglich, weil diese Produkte anders designt wurden und auf ihre Kernfunktionen reduziert worden sind“, erklärt Julia Arlinghaus das Prinzip.
In der Fachwelt gibt es dafür sogar einen eigenen Terminus: „Das sind so genannte frugale Innovationen“, erläutert Julia Arlinghaus. Frei und sinngemäß übersetzt bedeutet das so etwas wie „gut genug“ Innovationen. Statt „höher, schneller, weiter“ geht es um anwendungsorientierte Lösungen, bei denen vom Nutzer nicht benötigte Funktionen einfach weggelassen werden. Das Endprodukt soll exakt die Bedürfnisse des Nutzers erfüllen; oft geht das zu deutlich niedrigeren Kosten. Braucht das Fahrrad also wirklich 28 Gänge oder reicht nicht nur ein Gang, wenn ich von A nach B kommen möchte? Es geht um die Erfüllung von Grundbedürfnissen, wie Gesundheit, Mobilität und Ernährung, nicht aber um Bequemlichkeit und Komfort.
„Wir haben häufig viel einfachere Materialien, die Produkte sind leicht zu warten und zu reparieren, die Funktionalitäten sind genau auf den Kunden zugeschnitten“, beschreibt die Wirtschaftswissenschaftlerin die Merkmale dieser neuen Waren. In ihrer Forschung untersucht sie, wie solche Produkte konstruiert, gestaltet, nachhaltig gefertigt und vertrieben werden können. Außerdem betrachtet sie, wie frugale Innovationen angestoßen und wie Liefer- und Produktionsketten so aufgebaut werden können, dass die lokale Produktion gefördert wird. Denn auch das ist in Ländern, in denen die meisten Menschen am unteren Einkommensbereich leben, entscheidend: Nur wenn sie in Arbeit gebracht und am Produktionsprozess beteiligt werden, können sie es sich leisten, als Kunden den Markt zu stärken.
Die richtigen Bedürfnisse erfüllen
Die Unterschiede zwischen reichen Industrienationen und ärmeren Ländern zeigen sich auch auf anderen Ebenen der Industrieproduktion: Während in der westlichen Welt immer mehr auf Automatisierung gesetzt wird, um konkurrenzfähig zu bleiben, trägt diese in ärmeren Ländern nur bedingt zu einer nachhaltigen Entwicklung bei. Arbeitsplätze und Bildung werden dringend gebraucht. Wo die Infrastruktur schlecht und der Transport schwierig ist, bringt es Vorteile, dezentral zu produzieren. Auch Distribution und Verkauf funktionieren anders, als wir es in westlichen Gesellschaften gewohnt sind: „In einigen afrikanischen Gesellschaften etwa läuft vieles über die Stammesältesten, die Lehrer oder die Frauen als Familienoberhäupter ab. Persönliche Kontakte sind bei größeren Investitionen enorm wichtig“, beschreibt Julia Arlinghaus den Verkaufsprozess. „Das kann man vielleicht sogar mit den Tupper-Partys hierzulande vergleichen.“
In Afrika kochen Frauen oft noch über offenem Feuer. Ein speziell konstruierter Lehmofen soll nun zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. (Foto: Shutterstock / davide bonaldo)
Ein speziell konstruierter Lehmofen ist ein Beispiel dafür, wie ein Produkt für den „Bottom of the Pyramide“ zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen kann. Der au))s 16 Elementen zusammengebaute Ofen kommt ohne Elektrizität aus, wird aus einem Material gefertigt, das nahezu überall verfügbar ist und ist auch für ärmere Haushalte erschwinglich. Hergestellt wird er von lokalen Unternehmen. Vor allem im ländlichen Raum lebt die Bevölkerung in Entwicklungsländern oft unter einfachsten Verhältnissen: „Etwa die Hälfte der Haushalte kocht über offenem Feuer“, erzählt Julia Arlinghaus. Das hat gesundheitliche Folgen – vor allem für die Frauen, die meist für die Essenszubereitung verantwortlich sind. Mit dem Lehmofen etabliert sich ein Produkt auf dem Markt, das lokale Ressourcen nutzt, an die Bedürfnisse vor Ort angepasst ist, Menschen in Arbeit und Bildung bringt und gleichzeitig ihre Gesundheit verbessert. „Das kann der Schlüssel für eine nachhaltige globale Entwicklung sein“, betont Arlinghaus.
Julia Arlinghaus reizt gerade die Arbeit am „Bottom of the Pyramide“, weil sie damit viel bewirken kann. Auch bei Studierenden und Kollegen beobachtet sie einen Wertewandel, bei dem es zunehmend nicht um das neueste und tollste Produkt geht, sondern darum, wichtige Zukunftsfragen zu lösen. Die Wissenschaftlerin ist optimistisch, dass ihr Forschungsfeld viel dazu beitragen kann: „Unternehmen, die nachhaltig neue Märkte erschließen wollen, müssen sich auch ihrer globalen Verantwortung bewusst sein. Das Wissen darüber können wir transportieren.“
Wussten Sie, dass...
- ... die Weltbank unterschiedliche Armutsgrenzen definiert? Als extrem arm gelten Menschen, die über weniger als 1,90 Dollar am Tag verfügen. Im Jahr 2015 waren das 736 Millionen Menschen, also etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung. Mit Blick auf die Bruttonationaleinkommen gelten in Ländern mit hohem mittleren Einkommen Menschen mit weniger als 5,50 Dollar am Tag als arm, in Ländern mit niedrigem mittleren Einkommen liegt die Armutsgrenze bei 3,20 Dollar am Tag. Insgesamt leben weltweit 3,4 Milliarden Menschen unter der Armutsgrenze. Erstmals seit 1998 erwartet die Weltbank wegen der Covid-19-Krise wieder ein Ansteigen der Armut.
- ... es weltweit im Jahr 2019 mehr als 19 Millionen US-Dollar-Millionäre gab? Zusammen verfügten diese über ein Vermögen von etwa 74 Billionen US-Dollar. Die mit Abstand meisten Millionäre – nämlich fast sechs Millionen – leben in den USA. Es folgen Japan mit knapp 3,4 Millionen und Deutschland mit knapp 1,5 Millionen Menschen, die extrem reich sind. Im Jahr 2009 verfügten 380 der reichsten Personen über genau so viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Im Jahr 2018 waren es nur noch 26 Menschen, die genauso viel besaßen wie die rund 3,8 Milliarden Menschen zählende ärmere Hälfte.