Die Motorenflüsterer
Bei 120 Dezibel ist für die meisten von uns Schluss. Diese Schmerzschwelle wird beim Start eines Flugzeugs in unmittelbarer Nähe erreicht. Zugegeben, keine gewöhnliche Geräuschkulisse, aber auch weit weniger eindrucksvolle Technik hat unseren Alltag akustisch verändert. Ob Laubsauger oder elektrische Zahnbürste, ob Rasenmäher oder Klimaanlage, Windräder oder elektrische Warnsignale sie alle hinterlassen hörbare Spuren.
Doch wann wird ein Geräusch zu Lärm? Physikalisch gesehen gibt es keinen Unterschied, dennoch ziehen Psychoakustiker wie Jesko Verhey eine klare Linie: Lärm stört! Ein Geräusch, so der Professor für Experimentelle Audiologie an der Hals-Nasen-Ohren-Uniklinik Magdeburg, ist eine neutrale Beschreibung von Schall, beim Lärm wird es persönlich, weil alle Menschen dazu eine unterschiedliche Auffassung haben. „Lärm ist aber nicht immer nur laut“, weiß der Physiker. „Die Geräuschqualität ist für unser Empfinden entscheidend.“ Dass das Kreischen einer Kreissäge Lärm sei, würde wohl niemand bestreiten. „Aber weder ein Zahnarztbohrer noch ein Fingernagel, der langsam über eine Wandtafel zieht, sind besonders laut.“ Trotzdem würden viele diese Geräusche als Lärm empfinden.
Vom Aufspüren von Luft- und Körperschall
Ein großer Teil unserer urbanen Geräuschkulisse geht auf Kosten des Individualverkehrs. Egal, welches Modell, welcher Motor uns von A nach B bringt: Sobald Autos fahren, werden sie laut. „Dabei ist der Antrieb aber nur für einen geringen Teil des Verkehrslärms verantwortlich“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Hermann Rottengruber, Leiter des Lehrstuhls Energiewandlungssysteme für mobile Anwendungen am Institut für Mobile Systeme. „Alle Antriebe haben einen Luftschall, also die durch die Luft übertragenen Schallwellen, und einen Körperschall, also alles, was Fahrer oder Fahrerin an Schwingungen oder Rütteln im Fahrzeug wahrnehmen“, so der Maschinenbauer. „Beim Verbrennungsmotor ist es die Anzahl der Kolben, die die Geräuschkulisse beeinflussen. Beim E-Motor ist es die Anzahl der Wicklungen, die dort eine sehr hochfrequente Anregung erzeugt. Der Motor dreht sich ja in seinem eigenen Magnetfeld, da sind verschiedene Pole definiert und immer, wenn er einen Magnetfeldwechsel macht, kommt es zu einem Geräusch, was im Fahrzeuginnenraum über den Körperschall zu einem lästigen Luftschall wird. Auch Brennstoffzellenanwendungen haben mechanische Transmissionsgeräusche und ein akustisches Verhalten.“
Sebastian Schneider (li.) und Dr.-Ing. Tommy Luft im Akustikprüfstand vor einem Versuchsmotor. (Foto: Harald Krieg)
Professor Rottengruber und seine Institutskollegen beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit der Akustik von Fahrzeugen. Im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte arbeiten Dr.-Ing. Tommy Luft und Sebastian Schneider in seinem Team daran, Antriebs- und Fahrzeuggeräusche präzise zu analysieren und zu optimieren.
„Fahrzeuge in der EU müssen akustische Grenzwerte einhalten, welche mithilfe eines speziellen Messverfahrens abgenommen werden. Dieses Messverfahren beinhaltet neben einer Beschleunigungskomponente auch die Einbeziehung einer Konstantfahrt des Fahrzeugs.“
Der Grenzwert liege zurzeit bei 72 Dezibel für PKW unter 120 kW/t. Bei verbrennungsmotorisch angetriebenen Fahrzeugen bilde bis circa 40 km/h bei Konstantfahrten und bei starken Beschleunigungen bis 80 km/h der Motor die Hauptgeräuschquelle, so der Ingenieur. Darüber dominierten innen und außen Wind- und Rollgeräusche, verursacht von Karosserie und Reifen, abhängig von Fahrbahn, Fahrwerk, Gewicht und Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Elektrogetriebene Fahrzeuge sind zwar im Stadtverkehr leiser, aber werden sie schnell, werden sie auch laut, weiß Dr. Luft. „Es ist für den Laien schwer vorstellbar, aber bei einer Geschwindigkeit ab circa 40 km/h fährt ein Elektrofahrzeug genauso laut wie ein verbrennungsmotorisch angetriebenes Fahrzeug.“
Maschinenbauer und Psychoakustiker machen unsere Städte leiser
Um die Geräusche von Motoren beeinflussen und modellieren zu können, hören die Magdeburger Maschinenbauer aufmerksam in die Motoren hinein, spüren Schallpfaden nach, identifizieren präzise einzelne Geräuschquellen im Gesamtsystem. „Wir als Ingenieure ermitteln also erst einmal die Fakten, die physikalisch messbaren Größen und Werte. Wir machen reine Antriebsakustik, egal, welcher Motor da vorne dranhängt“, erklärt Professor Rottengruber und zeigt in der Laborhalle 14 auf einen vier mal vier Meter großen technischen Aufbau, den Motorprüfstand. Ein Motorprüfstand ist ein abschließbarer Messraum, in dem ein Motor unabhängig von seinem normalen Einsatzumfeld untersucht werden kann. Neben Verbrauchs- und Abgasmessungen werden hier auch akustische Messungen durchgeführt. Zusätzlich mit schalldämpfendem Material ausgekleidet, können Motoren angedockt und akustisch vermessen bzw. kann analysiert werden, welche Vibrationen und Schwingungen durch seinen Antrieb entstehen. Wie bei einem Herz-EKG erfassen bis zu achtzig Sensoren hochpräzise jede akustische Äußerung des Motors, spüren das kleinste Klopfen auf, messen für den Menschen nicht mehr hörbare Frequenzen und zerlegen sie in Einzelgeräusche.
„Wir erfassen hier einerseits Vibrationen und Schwingungen von der Körperoberfläche des Motors und andererseits die durch die Luft übertragenen Schallwellen der entstehenden Geräusche“, so Sebastian Schneider, der am kürzlich abgeschlossenen und von der Arbeitsgemeinschaft industrielle Forschungsvereinigungen AiF geförderten Forschungsprojekt „Körperschallbasierte Dieselmotorenregelung“ maßgeblich beteiligt war. Vier Mikrofone haben die Fahrzeugakustiker in einem Meter Abstand zum Motor positioniert, um den Luftschall zu messen. Darüber hinaus sind die Körperschallsensoren auf dem Motor angebracht. „Über diese Körperschallaufnehmer werden die Vibrationen an der Oberfläche des Motors erfasst. Diese Vibrationen lassen Rückschlüsse darauf zu, was sich im Innern des Motors abspielt.“
Neben dem hochmodernen Akustikprüfstand nutzen die Geräuschexperten auch sogenannte Mikrofonarrays, um Schalldruckverteilungen vor abstrahlenden Motorflächen zu erfassen. Mit 60 Mikrofonen bestückt, können mithilfe dieses aus filigranen Metallstäben bestehenden Konstrukts, Schallquellen lokalisiert werden.
Haben dann die Ingenieure vom Institut für Mobile Systeme die Fahrzeug- und Motorengeräusche akribisch aufgespürt und digital verarbeitet, gelangen sie in die Hals-Nasen-Ohren-Universitätsklinik zum Hörforscher Prof. Dr. Jesko Verhey. Mithilfe moderner Hörakustik kann er die Geräusch-Datensätze charakterisieren und klassifizieren. Er interpretiert Motorengeräusche und analysiert mithilfe aufwändiger Testreihen wie scharf, wie laut, wie impulshaft ein Geräusch ist, sprich: wie menschliche Ohren es wahrnehmen. Es sind Kategorien wie kernig, akzeptabel, laut, leise oder lästig, mit denen Professor Verhey die Eindrücke seiner Probanden beschreibt. Doch sind es nicht nur Menschenohren, denen Verhey eine Geräuschkulisse zur Bewertung anbietet. Auch künstliche Ohren kommen zum Einsatz. So bilden im Forschungslabor der Experimentellen Audiologie 31 Lautsprecher im Abstand von zwei Metern einen Halbkreis um einen mit hochsensibler Technik gefüllten grauen Kunstkopf, dessen mit hochsensiblen Sensoren ausgestattete Ohren exakt erfassen, wo Schallwellen, Impulse und Frequenzen in welcher Intensität auftreffen.
Prof. Dr. Jesko Verhey neben dem mit hochsensibler Technik gefüllten grauen Kunstkopf, der erfasst, wo Schallwellen, Impulse und Frequenzen in welcher Intensität auftreffen. (Foto: Harald Krieg)
Die Ergebnisse des Psychoakustikers bilden anschießend die Basis für die Ingenieure, bestehende Motoren und Fahrzeuggeräusche zu verändern. „Wenn die Probanden Geräusche als störend oder inakzeptabel empfunden haben, greifen wir in den Antriebsprozess ein, beeinflussen zum Beispiel Einspritzmengen oder -zeiten und machen so das Geräusch angenehmer. Nicht immer nur leiser, aber angenehmer“, betont Dr. Tommy Luft.
Entscheidend dafür sei, ergänzt sein Kollege Schneider, bei den Verbrennungsmotoren Abgase und Verbrauch gleichzeitig zu erfassen und dem Motorengeräusch gegenüberzustellen. Schließlich suchen die Maschinenbauer nach dem Optimum im Zusammenspiel der voneinander abhängigen Kategorien Leistung, Verbrauch, Abgase und Geräusch. Sie tüfteln dafür an neuen Materialien und Beschichtungen, prüfen Dämmungen oder Schwingungsdämpfer, testen das Einkapseln von Motoren oder entwickeln innovative Regelungsstrategien. Die Herausforderung ist es, alle Möglichkeiten zur Reduzierung von Geräuschen auf Kosten, Effizienz, Umweltverträglichkeit und Machbarkeit zu prüfen. „Neue Materialien mögen exzellent dämmen, bedeuten aber oft eine Gewichtszunahme, was dazu führt, dass Verbrauch und Schadstoffemission des Motors ansteigen“, weiß Schneider.
Neue Technologien werden unsere Hörgewohnheiten verändern
Aber Geräusche im Stadtverkehr sind auch überlebenswichtig. Wir haben gelernt, ihnen zu folgen und uns zu orientieren. Sei es, dass wir beim Aufheulen des Motors in den nächsten Gang schalten, bei ungewöhnlichem Klappern in die nächste Werkstatt fahren oder Warnsignale sofort als Notfall erkennen.
Wenn in Zukunft Verbrennungsmotoren im Individualverkehr weniger werden und auch der öffentliche Nahverkehr mehr und mehr über E-Mobile läuft, wird es stiller um uns werden. Dann, blickt Hörexperte Verhey voraus, greifen unsere erlernten Hörgewohnheiten nicht mehr, fehlen akustische Warnungen und die Gefahr von Kollisionen mit Fußgängern und Radfahrern steigt. Geräusche in und um langsam fahrende Elektroautos enthalten zwar hochfrequente Anteile aus der Leistungselektronik, wie Pfeifen oder Heulen. Aber sowohl dem Fahrer als auch dem Fußgänger fehlt das Gefühl für Betriebspunkte, die wir interpretieren können, wie z. B. die vibroakustischen Signale verbrennungsmotorisch angetriebener Fahrzeuge, die über Veränderungen von Drehzahl und Geschwindigkeit informieren. „Autos werden dann zwar leise, aber auch gefährlich“, vermutet Verhey. „Fehlen Geräusche, fehlen uns wichtige Informationen.“
Künftig wird es also auf dem Gebiet der Fahrzeugakustik um ganz andere Fragestellungen gehen. Denn mit neuen Antriebsmodellen gehen gelernte Emotionen und Handlungen durch ungewohnte akustische Signale verloren. Maschinenbauer und Hörforscher müssen sich in Zukunft dann gemeinsam darum kümmern, dass Mobilität und Mensch kompatibel bleiben. Da werden wir Menschen auch umlernen müssen, so der Wissenschaftler und ist optimistisch. „Das ginge aber, denn die Straßenbahnfahrer können es auch, die Bahnen sind heute fast alle elektrisch. Bei der Bundesbahn ist das nicht anders. Das würden wir schon hinkriegen. Man wird den Klang künftig, zumindest in der Übergangszeit, auch akustisch verändern müssen bei Hybrid- oder Elektrofahrzeugen, denn die haben ja keine Gangschaltung mehr.“
Ein gutes Beispiel sei der Range-Extender, so Professor Verhey. „Ein Range-Extender kann die Reichweite von Elektrofahrzeugen verlängern, in dem er sich einschaltet, wenn es mit der Reichweite knapp wird. Der Fahrer hat darüber aber keine Kontrolle, was störend wirken kann. Künstlich erzeugte Geräusche könnten hier helfen.“
Man müsse kein Prophet sein, um zu sehen, dass die Bedeutung des ausschließlich verbrennungsmotorischen Antriebs in der individuellen Mobilität abnehmen werde, resümiert Ingenieur Hermann Rottengruber. „Es gibt ein aktuell viel diskutiertes Szenario, vielleicht bis 2050 komplett elektrifiziert in der Personenmobilität unterwegs zu sein. Allerdings wird dieses Mobilitätsszenario mit unserer heutigen Individualmobilität nicht mehr viel zu tun haben. Denn die Verkehrs- und Energiewende bedeutet künftig nichts Anderes als Energieeinsparung und Schadstoffreduktion durch Verkehrsvermeidung.“
Wussten Sie schon, dass...
... das Ohr das einzige Sinnesorgan ist, dass wir nicht abschalten können? Geräusche dringen immer vor. Besonders lästig sind für uns schrille Geräusche, aber auch andere Schalle können lästig sein, wenn sie ungewollt unsere Aufmerksamkeit erregen, wie z. B. sich zeitlich stark ändernde Schalle. Ein gutes Beispiel ist der tropfende Wasserhahn. Auch das gesprochene Wort ist ein zeitlich sich stark ändernder Schall. Hier zeigt sich, dass der gleiche Schall mal lästig und mal nicht lästig sein kann. Wenn wir mit jemandem reden, ist die Sprache wichtige Informationsquelle, wenn wir ihr aber bei der Arbeit ungewollt ausgesetzt sind, dann kann sie stark stören. | |
... sich das Fahrzeuginnengeräusch aus zwei Schallanteilen zusammensetzt? Es sind der Luftschall und Körperschall. Der Luftschall besteht aus Schallwellen, die von einer Geräuschquelle stammen und sich über die Luft verbreiten. Sie gelangen z. B. vom Motor durch Öffnungen zum Fahrer. Der Körperschall entsteht vor allem durch Erschütterungen in Maschinen, die durch Vibration übertragen werden. Im Gegensatz zum Luftschall kann man Körperschall besser fühlen. Wird Luftschall durch Druckschwingungen der Luft übertragen, z. B. bei Sprachkommunikation, breitet sich Körperschall durch Schwingungen in festen Körpern aus, z. B. beim Einschlagen eines Nagels in eine Hauswand. |
Katharina Vorwerk