Lebensretter gesucht!
Jährlich erkranken in Deutschland ca. 2000 Kinder an Krebs, davon werden bei ungefähr einem Drittel akute Leukämien diagnostiziert. In der Kinderonkologie der Universitätsklinik Magdeburg werden aktuell mehrere Kinder mit akuten Leukämien behandelt. Neben einer intensiven Chemotherapie ist in einigen Fällen eine Heilung nur mit einer Stammzelltransplantation möglich. Insgesamt warten zehn Kinder im Moment auf eine Stammzellspende. Darunter jedoch auch Kinder mit Immundefekten, Knochenmarkversagen oder Erkrankungen der roten Blutkörperchen. Am 18. September zum Internationalen Tag der Knochenmarkspende (World Marrow Donor Day), soll nicht nur weltweit auf das Thema Knochenmark- und Stammzellspende aufmerksam gemacht werden, sondern er steht auch für eine große Dankbarkeit für das Engagement aller registrierten Spenderinnen und Spender.
Vertauschte Rollen
Einer von ihnen ist Carsten Krüger. Er ist seit 2014 bei der DKMS (Deutsche Knochenmarkspende) registriert und hat 2016 den Anruf erhalten, dass er als Spender geeignet ist, ein Leben zu retten. „Ich habe das Ganze natürlich bejaht und tatsächlich Stammzellen gespendet. Nach einer zweijährigen Kontaktsperre hat meine Stammzellspenderempfängerin dann letztendlich Verbindung zu mir aufgenommen. Seitdem haben wir einen sehr engen Draht zueinander und planen auch, uns zu treffen“, erzählt der junge Vater einer fast zweijährigen Tochter, „Das ist also der schöne Part zum Thema Knochenmarkspende. Leider endet unsere Geschichte an dieser Stelle nicht.“
Denn die Rollen wurden im August dieses Jahres vertauscht: Carsten Krüger und seine Frau Anne, die an der Uni Magdeburg Humanmedizin studiert, suchen seit dem 29. August verzweifelt nach einem passenden Spender oder einer passenden Spenderin. Denn ihre kleine Tochter Tess ist eines der zehn Kinder, die in der Kinderonkologie der Universitätsklinik auf eine Stammzelltransplantation warten. Bei ihr wurde Anfang des Jahres eine akute Leukämie festgestellt.
„Eine Leukämie geht von den weißen Blutkörperchen, den sogenannten Leukozyten, aus, die im Knochenmark gebildet werden. Unreife Leukozyten, die ihre eigentliche Funktion – die Abwehr von Infektionen – nicht wahrnehmen können, vermehren sich übermäßig. Diese Zellen hören also nicht auf, sich zu teilen und verdrängen alle anderen Zellen, die normalerweise im Knochenmark gebildet werden“, erklärt Dr. Antje Redlich, die Leiterin der Kinderonkologie der Universitätsklinik Magdeburg und eine der behandelnden Ärztinnen von Tess. Patientinnen und Patienten mit Leukämie haben also zu wenige Blutplättchen, die für die Blutgerinnung zuständig sind. Deswegen bekommen die Kinder mit Leukämie oft schnell blaue Flecken oder Nasenbluten. Außerdem haben sie zu wenig Abwehrzellen, sie sind also sehr anfällig für bakterielle und virale Infektionen. Auch sind sie blass und schnell erschöpft, da ihnen die roten Blutkörperchen fehlen, die den Sauerstoff transportieren.
Unspezifische Anzeichen
Als Tess im Oktober 2019 geboren wurde, war das Glück von Carsten und Anne Krüger perfekt. Bis sie im Dezember 2020 bemerkten, dass ihre Tochter Symptome hatte, die zuerst unspezifisch waren: ein kleiner Babybauch, ein paar blaue Flecke aus der Kita. „Im Prinzip eigentlich alles normal, bis wir dann im März bemerkt haben, dass unsere eigentlich agile Tochter nicht mehr laufen und nur noch getragen werden wollte. Das war für uns ein Punkt, wo wir ärztlichen Rat gesucht haben, auch, weil bei mir durch mein medizinisches Wissen aus dem Studium die Alarmglocken geschrillt haben, da durch die unspezifischen Symptome alles vom Pfeifferschen Drüsenfieber bis hin zur Leukämie in Frage kam“, erzählt Anne Krüger. Schließlich hat sich die junge Familie auf der Intensivstation der Unikinderklinik wiedergefunden, da die Krankheit bei dem kleinen Mädchen bereits so weit fortgeschritten war, dass Lebensgefahr bestand. Anfang April war die knapp zweijährige Tess dann zwar außer Lebensgefahr, doch der Kampf gegen den Krebs hatte da für die Familie erst begonnen.
Die vergangenen fünf Monate hangelten sie sich von Therapieblock zu Therapieblock, denn die wichtigste und effektivste Behandlungsmethode gegen eine Leukämie ist die Chemotherapie. „Das sind Intensivblöcke, die die Kinder bekommen. Die sind deshalb notwendig, weil man mit einer Chemotherapie immer nur die Zellen erwischt, die sich gerade teilen. Zudem muss man mit den Medikamenten alle Organe erreichen, da Blut den gesamten Körper versorgt. Also muss die Chemotherapie immer wiederholt werden, um alle Krebszellen zu eliminieren.“, erklärt Dr. Redlich und fährt fort: „In Deutschland werden alle Kinder mit Krebserkrankungen zentral erfasst und in Therapieoptimierungsstudien behandelt. Damit werden alle Kinder mit der gleichen hohen Qualität diagnostiziert, behandelt und nachgesorgt. Es ist egal ob sie sich in München vorstellen, in Berlin oder bei uns, die Behandlungsprotokolle sind gleich und eine Zweitmeinung gibt es durch die Struktur der Studienleitung für jede einzelne Tumorerkrankung im Kindesalter automatisch dazu."
Große Fortschritte
Durch die Arbeit in den Studien habe es einen großen Fortschritt in der Kinderonkologie gegeben, so Dr. Antje Redlich: „Wir heilen jetzt 85 Prozent aller Kinder mit Krebserkrankungen. Das ist auch wegen dieser Studien möglich, weil man bei den Patientinnen und Patienten prüft, welche Behandlung am besten wirkt. Tatsächlich könne man Kinder oft erfolgreicher behandeln, da sie eine höhere Dosis der Chemotherapie vertragen als Erwachsene. „Oftmals ist der Krebs bei Kindern zwar aggressiver, aber was schnell wächst, kann man auch gut mit Chemotherapie behandeln“, so die Ärztin. Und es werde auch an immer neuen Behandlungsmethoden geforscht. „Es sind sehr innovative Sachen in der Pipeline. Die Fortschritte, die in den letzten Jahren in der Kinderonkologie gemacht wurden, sind enorm. Zum Beispiel werden nun Leukämien auch mit Antikörpern oder genetisch veränderten eigenen Abwehrzellen behandelt“, erklärt die Onkologin
Wie kann nun aber eine Stammzellentherapie Leben retten? Tess‘ Eltern haben im August erfahren müssen, dass eine Chemotherapie allein keine Erfolgsaussichten mehr hat und deswegen eine Knochenmarkspende die letzte Möglichkeit ist, das Leben von Tess zu retten.
Eine Stammzellentherapie hat den Vorteil, dass man den erkrankten Kindern eine noch höhere Dosis der Chemotherapie geben kann. Ohne die Stammzellenspende muss bei der Chemotherapie darauf geachtet werden, dass die noch „gesunden“ Zellen im Knochenmark nicht zerstört werden. Außerdem bekommt das Kind durch die gespendeten Stammzellen zusätzliche Abwehrzellen, denn aus den transplantierten Stammzellen werden Abwehrzellen, die ebenfalls gegen die Leukämie vorgehen.
„Dieser Effekt ist extrem wichtig“, betont Dr. Redlich, „Bevor das allerdings möglich ist, müssen die Kinder eine möglichst weitgehende Remission der Erkrankung erreichen.“ Remission bedeutet, dass die Leukämiezellen nicht mehr nachweisbar sind. Ziel dieser Intensivblöcke der Chemotherapie ist es also, dass so wenige bösartige Zellen wie möglich im Körper der Kinder sind, um dann eine Stammzelltransplantation durchführen zu können.
Dr. Antje Redlich ist die Leiterin der Kinderonkologie der Universitätsklinik und eine der behandelten Ärztinnen von Tess (c) Melitta Schubert/UMMD
Ein Alltag im Krankenhaus
Deswegen sieht der Alltag der jungen Familie im Moment so aus, dass Tess weiter mit den Intensivblöcken behandelt wird, um die „bösen“ Zellen zu minimieren und sie auf eine mögliche Stammzelltransplantation vorzubereiten. „Diese Intensivblöcke gehen immer über sechs Tage, in denen dann intensiv Chemotherapie verabreicht wird. In den zwei bis drei Wochen danach gibt es ein Zeitfenster, in denen der Körper sich wieder ein bisschen regeneriert und erholt von der ganzen Therapie. Anschließend fällt der kleine Körper aber in einen Zustand, wo er letztendlich keine Abwehrzellen mehr hat und auch akut gefährdet ist, was Infektionen angeht“, so Carsten Krüger. „Momentan sind wir fast täglich mit Tess im Krankenhaus, wo ganz einfach geschaut wird: Wie sind die Blutwerte? Wie sind die Entzündungswerte? Hat sie irgendwelche Anzeichen einer Infektion? Sobald Anzeichen auftreten, dass es ihr schlechter geht, geht es für Tess sofort ins Krankenhaus in Isolation, um sie dann mit medizinischer Unterstützung wieder aufzupäppeln, damit wir die nächste Therapie machen können. Das Ganze ist so vorgesehen, dass jetzt drei Intensivblöcke durchlaufen werden und so denn ein Spender da ist, Anfang November in Halle die Knochenmarktransplantation durchführen werden“, erklärt Anne Krüger.
Aber auch eine Stammzelltransplantation hat Nebenwirkungen. Die Kinder haben nach der Behandlung wochenlang kein funktionierendes Immunsystem, was kleinste Infektionen hochproblematisch macht. Außerdem ist immer unsicher, wie das neue Immunsystem auf den Körper reagiert, ob es zu einer Abstoßungsreaktion kommt. Auch diese Therapie ist ein langer und schwerer Weg. „Aber im Idealfall läuft es gut. Es ist deutlich besser geworden, weil wir in der Medizin mittlerweile mehr Möglichkeiten haben, die Komplikationen zu beherrschen. Die Heilungschancen nach einer Stammzellenspende liegen nicht bei 100 Prozent, aber es gelingt uns bei 85-90 Prozent der Fälle, die Kinder zu heilen“, so Dr. Redlich.
Stäbchen rein, Spender sein
Damit das möglich wird, braucht es jedoch einen passenden Spender oder eine passende Spenderin. „Der erste Weg wäre, sich online zu registrieren. Da bekommt man von der DKMS ein Spenderset zugeschickt. Nach einem Wangenabstrich schickt man Teile des Sets kostenfrei zurück. Es ist also für den, der sich registrieren lassen will, vollkommen unkompliziert, geht ganz schnell und man hat am Ende einen Zeitaufwand von 5 Minuten. Die zweite Möglichkeit wäre, dass man direkt in die Uni-Blutbank geht“, erklärt Carsten Krüger.
Wo man sich registriert, spielt indes keine Rolle, da alle Krankenhäuser auf dieselbe Datenbank zurückgreifen, wenn Spenderinnen und Spender gesucht werden. „Es ist sehr wichtig, dass immer mehr Leute nachkommen, denn sobald man 61 ist, fällt man aus der Kartei und kommt als Spender nicht mehr in Frage. Auch mit bestimmten Vorerkrankungen fällt man raus. Das mittlere Alter eines Knochenmarkspenders liegt ungefähr bei 30 Jahren, es sind also eher die Jüngeren und die müssen immer wieder neu erreicht werden, um die Kartei möglichst aktuell zu halten“, so die Kinderonkologin Redlich. Und der Bedarf werde immer größer. Denn es sind lange nicht nur Leukämiepatientinnen und -patienten, die eine Spende benötigen, sondern zum Beispiel auch Patienten und Patientinnen mit schweren Immundefekten und Erkrankungen der roten Blutkörperchen. „Deswegen ist es extrem wichtig, dass sich möglichst viele Menschen registrieren lassen“, so Dr. Redlich.
Wenn man schon als Spender eingetragen ist, kann man sich nicht noch einmal registrieren, aber man kann die DKMS auch mit einer Geldspende unterstützen. „Für uns liegt der Fokus in erster Linie natürlich darauf, so viele Menschen wie möglich zu registrieren, um ganz einfach eine Basis zu haben, auf der man letztendlich den passenden Spender finden kann. Wir haben von der DKMS die Info bekommen, dass in Magdeburg jetzt 12000 Spenderinnen und Spender existieren“, sagt Carsten Krüger.
Dabei ist eine Knochenmark- und Stammzellspende dasselbe. Der Unterschied liegt lediglich in der Art der Gewinnung der Stammzellen. Bei einer Stammzellspende werden die Stammzellen aus dem Knochenmark durch ein Medikament mobilisiert und durch eine Art Blutwäsche aus dem Blut „herausgewaschen“. Bei der Knochenmarkspende im eigentlichen Sinn wird Knochenmark mit einer Nadel, meist aus dem Beckenknochen, entnommen. Diese Methode wird heute allerdings seltener genutzt.
Großer Einsatz
Damit das möglich wird, versuchen sowohl Tess` Eltern als auch das gesamte Team der Kinderonkologie alles Menschenmögliche. „Als Eltern wollen wir natürlich alles in Bewegung setzen, damit wir am Ende sagen können: Es war ein langer Weg. Es war ein sehr, sehr schwieriger Weg. Aber wir haben am Ende den Krebs besiegt, das ist einfach das Ziel, was wir über alles stellen“, so Carsten Krüger.
Seit Ende August suchen Carsten und Anne nach einem Spender für ihre Tochter, mit tatkräftiger Unterstützung von Dr. Redlich und ihrem Team, die ihre ärztliche Arbeit als Berufung verstehen. „Jede Krankenschwester, jede Pflegekraft, jeder Arzt stecken so viel Herzblut in ihre Arbeit. Da muss man einfach Danke sagen“, so Vater Carsten Krüger, „Klar ist das gewissermaßen ihr Job, aber man darf nicht vergessen: Es hängt so viel Eigeninitiative dran, wenn man sieht, dass die öffentlichen Aufrufe auch teilweise durch die Pflegekräfte verbreitet werden, das macht uns oftmals wirklich sprachlos. Uns geht es auch darum, einfach Danke zu sagen, trotz der schlimmen Diagnose und unserer Verzweiflung. Wir hoffen natürlich, dass alles gut ausgeht und am Ende sich auch der große Einsatz Aller lohnt. Aber bis dahin hilft uns das unwahrscheinlich, jeden Tag aufs Neue zu meistern!"