Mehr Mut zu Mathe
Die einen lieben schon in der Schule die Welt der Zahlen und Formen, das Erkennen von Strukturen, das Jonglieren mit Gleichungen und Formeln. Für die anderen ist es ein Gräuel. An der Universität geht es weiter: Wer sich nach der Schule dafür entscheidet, sein Glück im Mathestudium zu suchen, bereut diese Entscheidung manchmal schon nach wenigen Wochen: Rund die Hälfte aller Studienanfänger und -anfängerinnen brechen ihr Mathestudium ab. Damit ist das Fach trauriger Spitzenreiter.
Bereits im ersten Studienjahr bricht rund ein Drittel der Studierenden das Studium ab. (Foto: Stefan Berger / Uni Magdeburg)
Warum brechen so viele Studierende ihr Mathestudium ab?
Die Mathematikdidaktikerin Prof. Dr. Stefanie Rach sucht nach Antworten auf diese Frage. „Mathematisches Wissen baut aufeinander auf“, erklärt die Wissenschaftlerin, die seit zwei Jahren Professorin für Didaktik der Mathematik ist. „Vorwissen ist der wichtigste Faktor für Lernerfolg.“ Wenn bereits in der Grundschule bestimmte mathematische Regeln und Begriffe nicht erlernt werden, wird es in den Folgeklassen sehr schwierig, sich neue Inhalte zu erschließen. Und dann kommt noch die Pubertät in die Quere: „Mit 13, 14 sinkt das Interesse an Mathematik, wie auch an allen anderen Unterrichtsfächern, enorm“, erklärt die Wissenschaftlerin. Gerade dann wird es in der Schule aber anspruchsvoll: Der Unterricht in Algebra beginnt. Die Zahlenwelt wird abstrakter, Variablen und Buchstaben kommen hinzu, das Konkrete nimmt ab. Viele Schülerinnen und Schüler steigen dann aus und verlieren den Anschluss. In der Oberstufe haben sie große Probleme und auch für ein erfolgreiches Studium fehlen die Grundlagen.
An dieser Stelle beginnt die Forschung von Stefanie Rach. „Als Mathematikdidaktikerin verstehe ich mich als empirische Bildungsforscherin“, erklärt sie. Diese Feststellung ist ihr wichtig, denn fälschlicherweise wird sie immer wieder als Mathematikerin bezeichnet. Zwar hat sie Mathematik und Physik studiert, um Lehrerin zu werden. Aber nach dem Studium hat sie in die Wissenschaft Mathematikdidaktik hineingeschnuppert – und blieb dabei. Heute untersucht sie, wie junge Menschen einen erfolgreichen Einstieg ins Mathestudium finden können und welche Rolle dabei ihr Vorwissen, ihre Einstellungen und ihre Interessen spielen.
Aus der Schule an die Universität
Der Übergang von der Schule zur Hochschule ist gerade für sie als Mathematikdidaktikerin eine spannende Phase. „Das Lehren und Lernen verändert sich mit dem Wechsel massiv“, betont sie. Statt Unterrichtsstunden gibt es Vorlesungen und Selbststudium. Auch erfolgreiche Schulabgänger, die vielleicht sogar eine Abiturprüfung in Mathematik abgelegt haben, scheitern manchmal an den Veränderungen und schmeißen ihr Studium. „Warum klappt das bei denen nicht?“, fragt sich Stefanie Rach. „Was passiert an der Hochschule und was können wir verbessern?“
Um das herauszufinden, beobachten und befragen Stefanie Rach und ihr Team die Mathematikstudierenden an der Universität und lassen sie Aufgaben lösen:
- Welches Vorwissen und welche Erwartungen bringen sie mit an die Uni?
- Wie groß ist das Interesse für Mathematik an der Hochschule?
- Haben sie Spaß am Rechnen oder faszinieren sie mathematische Beweise?
- Was motiviert sie und was hilft ihnen beim Lernen?
Die Forscher untersuchen anschließend, ob die Antworten der Studierenden und ihre Testergebnisse Einfluss auf ihren Erfolg bei Klausuren oder auf die Entscheidung haben, das Studium abzubrechen. Außerdem beobachten sie, wie sich diese Parameter im Verlauf des Studiums verändern und wann die Studierenden zufrieden sind.
Prof. Dr. Stefanie Rach erforscht, warum so viele Studierende ein Mathestudium abrechen (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Studienabbrüchen vorbeugen
Die Hochschulmathematik unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der Schulmathematik. Das Führen von formalen Beweisen und das Aufstellen von Vermutungen sind Neuland für die Studienanfänger. Vieles müssen sie sich selbst erarbeiten – der Anteil des Selbststudiums ist groß. Nur mit geeigneten Lernstrategien und einem guten Vorwissen kann das begonnene Studium erfolgreich fortgeführt werden. „Wenn das fehlt, sind viele rasch überfordert und demotiviert“, weiß Stefanie Rach.
Doch es muss nicht immer zum Schlimmsten kommen. Ein vorzeitiger Studienabbruch ließe sich verhindern, wenn rechtzeitig interveniert wird, ist Stefanie Rach überzeugt. Wenn sich etwa zeigt, dass das Vorwissen nicht ausreicht, um das erste Semester zu bestehen, können unterstützende Angebote helfen. Bereits jetzt existieren Vorkurse zum Studium, in denen wichtiges mathematisches Wissen zur Vorbereitung aufs Studium zusammengefasst wird. Dann gilt es, den Studienanfängern und -anfängerinnen einen kleinen Schubs zu geben: „Es gibt Möglichkeiten, das fehlende Vorwissen nachzuholen. Nutzen Sie diese. Ansonsten wird es schwierig.“
Auch Lerngruppen können sehr hilfreich sein, um am Ball zu bleiben, betont Rach. Wenn es während des Studiums zu Durststrecken kommt und sich Hindernisse oder Fragen auftun, gibt es außerdem Beratungsangebote und Tutorien, in denen erfahrenere Studierende den Neulingen mit so manchen Tipps und Tricks weiterhelfen können. Das Gefühl der Überforderung, unter dem viele Studierende litten, ließe sich damit gut in den Griff bekommen.
Eine entscheidende Größe, die über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, scheint auch das sogenannte Selbstkonzept zu sein. Wie fit fühle ich mich selbst in mathematischen Fragen? Wie sicher bin ich mir meiner eigenen Leistung? Wie viel traue ich mir zu? Die empirische Bildungsforschung beginnt gerade erst zu verstehen, wie dieses Selbstbild der eigenen Fähigkeiten universitäres Lernen beeinflusst. „Studierende, die sich schon zu Beginn des ersten Semesters unsicher fühlen, nehmen später auch seltener an Klausuren teil“, erklärt Bildungsforscherin Rach. Studierende mit einem hohen Selbstkonzept stellen sich dagegen eher den Leistungskontrollen, können aber dennoch scheitern, wenn das Vorwissen nicht ausreicht.
Prof. Dr. Stefanie Rach und ihr Team wollen herausfinden, wie Studienabbrüche verhindert werden können (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
„Manchmal ist aber nicht das mangelnde Vorwissen oder der fehlende Glaube an die eigenen Fähigkeiten der Grund dafür, dass das Mathestudium abgebrochen wird. Nicht immer entspricht das Studium dem, was die Schulabsolventinnen und -absolventen erwartet haben. An der Hochschule ist Mathematik abstrakter. Es geht weniger um das konkrete Rechnen, dafür mehr darum, Muster und Strukturen zu erkennen, eigene Hypothesen zu entwickeln und nach Beweisen zu suchen.“
Wunsch und Wirklichkeit abgleichen
Um die Erwartungen an ein Mathestudium nicht zu enttäuschen, müssten Studieninteressierte besser darüber informiert werden, was sie an der Hochschule lernen werden, sagt Stefanie Rach. Speziell dafür hat sie einen Workshop für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe entwickelt. „Es geht nicht darum, einen Eingangstest zu machen und nur die Guten durchzulassen“, betont sie. Stattdessen sollen die Schüler und Schülerinnen eine solide eigene Entscheidung treffen, ob ein Mathematikstudium der richtige Weg ist. Im Workshop erfahren die Schüler aus erster Hand – nämlich von Studierenden – wo sich ihre Vorstellungen mit der Realität überschneiden und wo Wunsch und Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Der ein oder andere kommt nach einem solchen Workshop vielleicht zum Schluss, doch lieber kein Mathestudium zu beginnen. „Aber das ist überhaupt nicht schlimm“, betont Rach. „Im Gegenteil. Es sollen ja gerade diejenigen ein Studium anfangen, zu denen es passt. Dann sinkt auch die Abbruchquote.“
Gerade für Lehramtsstudierende seien die Mathematik-Veranstaltungen mitunter schwierig – denn schließlich lernen sie an der Universität Hochschulmathematik, um später Schulmathematik zu unterrichten. Werden beide Bereiche im Studium besser miteinander verknüpft, könnten gerade die Lehramtsstudierenden profitieren – so eine der Vermutungen von Mathematikdidaktikern und -didaktikerinnen, die Stefanie Rach gerade mithilfe von Befragungen unter Studierenden überprüft. Eigens dafür kann ein Seminar für Lehramtsstudierende dienen, um diese Verknüpfung in der Hochschulausbildung neu zu etablieren. „Wir brauchen gerade im MINT-Bereich gute Lehrkräfte an den Schulen“, betont sie. Denn schließlich sei auch der Lehrkräftemangel dafür verantwortlich, dass das mathematische Vorwissen häufig nicht für ein Studium reiche.
Vorkurse, Beratungen, Workshops – die Werkzeugkiste der Mathematikdidaktik ist mit einigen guten Instrumenten gefüllt. Dennoch stehen sie immer wieder vor demselben Problem: Die Angebote werden gerade von jenen nicht genutzt, die sie am dringendsten brauchen würden. „In unseren Mathe-Support gehen nicht die Leute, die große Probleme haben, sondern eher solche, die noch das i-Tüpfelchen für ihre Lösung suchen“, fasst Rach zusammen. „Es gibt kaum Studien dazu, warum das so ist.“ Dabei könnten gerade jene von den Angeboten profitieren, die ihren Wissensschatz noch erweitern müssen. Denn – das zeigen die Studien der Mathematikdidaktiker und -didaktikerinnen – die Studienzufriedenheit ist nicht nur eng an das Mathematikinteresse, sondern auch an das vorhandene Wissen geknüpft.
Auch wenn Stefanie Rach betont, dass sie keine Mathematikerin ist – ihre eigene Faszination für Zahlen und Strukturen hat sie schon als Schülerin entdeckt. Dass die Wissenschaftsdisziplin häufig ein ungeliebtes Fach ist, bedauert sie. „Mathematik hat einen schwierigen Stand in der Gesellschaft – sie ist nicht nur das Angstfach in der Schule, sondern auch der Partyschreck.“ Natürlich wüssten die meisten Menschen, dass Mathematik für den Alltag und für die Wissenschaft extrem nützlich sei. Dennoch fehle es häufig an Anerkennung für diejenigen, die sich beruflich damit befassen. „Das ist schade und manchmal auch anstrengend“, sagt die Mathematikdidaktikerin.
Wussten Sie, dass...
...ein aus etwa zwei Millionen Nervenzellen bestehendes Areal in der äußeren Hirnrinde als Zentrum für Zahlenerkennung gilt? Forscher der Stanford University in Kalifornien beobachteten bei ihren Probandinnen und Probanden eine besonders hohe Aktivität dieses mathematischen Zentrums, sobald diese mit Zahlen konfrontiert wurden. Auf andere Reize wie zahlenähnliche Symbole oder vorgespielte Wörter reagierte das Gehirnareal weniger intensiv.