Jeder Klick ein Datensatz
Ein Stift und ein Blatt Papier. Mit diesen Arbeitsutensilien bewältigt Alexandra Carpentier einen Großteil ihres Forschungsalltags. Es ist nicht unbedingt das, was man erwartet, wenn die Professorin, die das Institut für Mathematische Stochastik der Uni Magdeburg leitet, ihr Forschungsgebiet beschreibt: „Ich arbeite an der Schnittstelle von mathematischer Statistik und maschinellem Lernen“, sagt die 32-jährige gebürtige Französin, die seit zwei Jahren in Magdeburg forscht. Damit findet ihr Arbeitsleben weitab vom berühmten Elfenbeinturm der Wissenschaft statt. Vielmehr wirkt sie als Mathematikerin an einer Entwicklung mit, die unser Leben und Arbeiten in den kommenden Jahren verändern wird.
Portrait Alexandra Carpentier (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
In jeder Sekunde fallen sie massenhaft an, in nahezu allen Lebensbereichen. Daten bilden die Grundlage von Alexandra Carpentiers Forschung. Viele Fragen – ob aus der Medizin, der Industrie oder dem Online-Handel – lassen sich mit ihnen mathematisch analysieren und lösen. Anhand der Zugriffszahlen und des Verhaltens der Nutzer kann ein Händler etwa errechnen, ob es sich lohnt, ein bestimmtes Produkt online zu bewerben. Genauso kann prognostiziert werden, ob eine politische Maßnahme den gewünschten Erfolg haben wird oder ob ein Medikament effizient wirkt. Alexandra Carpentier arbeitet zwar nicht mit solchen konkreten Fragen, liefert mit ihrer Arbeit aber die Grundlagen für die mathematischen Instrumente, die die richtigen Antworten darauf liefern können.
Erforschung von Qualität und Quantität
„Wenn man sehr wenige Daten hat, kann man die Frage nicht beantworten, wenn man sehr viele hat, findet man die Antwort“, erklärt die Mathematikerin. „Aber was passiert im Zwischenbereich?“ Wie viele Daten benötigt man, um etwa bestimmte statistische Methoden oder auch Algorithmen der Künstlichen Intelligenz anwenden zu können? Für große Internet-Konzerne, aber auch für Biotechnologen oder Mediziner ist diese Frage spannend, weil sie darüber entscheidet, wie groß der Aufwand für Experimente und Tests sein muss und wie viele Daten gesammelt werden müssen, um sichere Ergebnisse zu erhalten.
Entscheidend für eine erfolgreiche mathematische Analyse ist aber nicht nur die Menge der Daten, sondern auch ihre Qualität. Bewegt sich ein Besucher auf einer Internetseite, erzeugt er mit jedem Klick eine Menge unterschiedlicher Daten.
- Wie lange bleibt er auf bestimmten Seiten?
- Welche Themen interessieren ihn?
- Welche Produkte klickt er an?
- Surft er mit dem Smartphone oder dem PC?
- Welche Produkte hat er bisher schon gekauft?
Mathematiker bezeichnen diese Informationen, die fortlaufend erhoben werden, als sequenzielle Daten. Nicht alle dieser Daten sind für bestimmte Fragen nützlich. Die Aufgabe der Wissenschaftler ist es, mit mathematischen Instrumenten diejenigen herauszufiltern, die für die jeweiligen Ziele benötigt werden.
Und nun kommen das Blatt Papier und der Stift zum Einsatz. Manchmal auch ein Stück Kreide und die Tafel. Mit diesen Hilfsmitteln überträgt Alexandra Carpentier das mathematische Problem in eine visuelle Skizze. Sie zeichnet Kreise und Punkte, Linien und Formeln, um die mathematischen Eigenschaften ihrer Daten zu erfassen und sich hineinzudenken. „Das ist wichtig, um im Kopf einen Überblick vom Problem zu bekommen“, erklärt sie. „Wir machen hier viele Bilder“, ergänzt sie lachend. Mithilfe der Skizzen kann sie anschließend Formeln und Gleichungen erstellen und das Problem mit mathematischer Logik und Präzision sezieren. Es ist der Teil ihrer Arbeit, den die Forscherin am meisten liebt: das Verstehen eines Problems und die akribische Suche nach der Lösung.
Alexandra Carpentier bei der Arbeit (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Mindestens genauso wichtig ist ihr die Kommunikation im Team. Regelmäßig setzt sich die Wissenschaftlerin mit ihren Kollegen und Doktoranden zusammen, um über Ideen und Forschungsansätze, mögliche Lösungswege und Schwierigkeiten zu diskutieren. Dieser Austausch ermöglicht es, eingefahrene Denkmuster zu durchbrechen und neue Lösungsideen zu entwickeln. Mathematisches Forschen ist Denksport und oft auch eine Geduldsprobe. Die Forscherinnen und Forscher benötigen mitunter einen langen Atem, um ihre Ziele zu erreichen. „Es kann Jahre dauern“, bestätigt Carpentier. „Mathematik ist nichts für Ungeduldige.“ Aber irgendwann, manchmal ganz unerwartet, kommt die zündende Idee für die Lösung des Problems. Nicht selten platzt der Knoten gerade in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen. Wenn dieser Moment kommt, ist das der Lohn für die geleistete Arbeit.
Erforschung von künstlicher Intelligenz
„Für jemanden, der kein Mathematiker ist, ist es wirklich schwierig zu verstehen, was wir machen“, weiß Alexandra Carpentier. Wenn sie Menschen trifft, die sie noch nicht kennt, reagieren diese oft verschreckt, wenn sie sich als Mathematikerin „outet“. Sagt sie aber, dass sie sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, sind die Reaktionen oft ganz anders. Dann horchen die Leute auf und sind interessiert.
Tatsächlich gibt die Forscherin mit ihrer Arbeit wichtige Impulse für die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz. Mit ihren Methoden prüft sie etwa, ob die verwendeten Algorithmen stabil sind und sich für das, was die Künstliche Intelligenz erlernen soll, eignen. Damit können letztlich Verfahren des maschinellen Lernens optimiert werden.
Dazu gehören auch Mensch-Maschine-Schnittstellen. Vor einigen Jahren untersuchte Alexandra Carpentier gemeinsam mit Neurowissenschaftlern Brain-Computer-Interfaces, die mithilfe von Elektroden das menschliche Gehirn mit einem Computer verbinden. Die elektrischen Impulse des Gehirns können dabei vom Computer gelesen werden. Menschen mit Bein- oder Armprothesen sollen künftig mit dieser Unterstützung ihre Gliedmaßen mit Nervenimpulsen steuern können. Carpentier untersuchte dabei, wie sich die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine noch besser aufeinander abstimmen lässt, damit dieses Ziel eines Tages Wirklichkeit wird. Sie suchte dafür nach Algorithmen, mit denen der Computer effizient und schnell lernen kann, die Signale aus dem menschlichen Gehirn zu erkennen und umzusetzen.
Damit hat die Mathematikerin auch Anteil an einer Entwicklung, die die Welt in den kommenden Jahrzehnten wohl massiv verändern wird. „Es ist sehr schwer zu sagen, was im Einzelnen passieren wird, aber es wird sehr schnell gehen. Mit künstlicher Intelligenz wird es viele neue Möglichkeiten geben, die bisher aber noch gar nicht gesetzlich reguliert sind“, gibt die Forscherin zu bedenken. Die Gesetzgeber müssten darauf rasch reagieren. Diese gesellschaftlichen Fragen, die unmittelbar auch an ihre Forschung geknüpft sind, interessieren sie als Mensch durchaus, sagt Carpentier. Als Forscherin aber konzentriert sie sich ganz auf den mathematischen Aspekt.
Mathematische Formeln dienen als Grundlagen für die Steuerung künstlicher Intelligenzen. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Es gibt noch viel zu tun für Alexandra Carpentier und ihre Kolleginnen und Kollegen. Wissenschaft und Wirtschaft suchen händeringend nach Personal mit dem entsprechenden Wissen, die Berufschancen sind exzellent. „In unserem Fach gibt es viel Potenzial“, bestätigt Carpentier, die sich für die Zukunft aber vor allem eines wünscht: „Es könnte noch mehr Frauen geben, die auf diesem Gebiet forschen. In der Mathematik ist der Anteil immer noch gering, aber in der Informatik arbeiten noch viel weniger Forscherinnen.“ Die Forschungsteams würden davon enorm profitieren, ist sie überzeugt. Gut möglich, dass sich auch das in den kommenden Jahren ändert.
Wussten Sie schon, dass ...
... die jährlich generierte digitale Datenmenge im Jahr 2025 auf 175 Zettabyte ansteigen wird? Drückt man diese Menge in Byte aus, erhält man eine Zahl mit sehr vielen Nullen: nämlich 175 000 000 000 000 000 000 000. Im Jahr 2013 betrug das weltweit generierte Datenaufkommen 3,5 Zettabyte, im Jahr 2018 bereits 33 Zettabyte. Vor allem das Internet der Dinge wird für den weiteren rasanten Anstieg verantwortlich sein. Weltweit werden Kaffeemaschinen, Drucker, Thermostate, Autos und andere Alltagsgegenstände über das Internet miteinander vernetzt sein – und Daten austauschen. Smart Homes und Smart Cities werden ebenfalls Unmengen neuer Daten generieren.
... Künstliche Intelligenzen die besseren Spieler sind? Egal ob Schach, das japanische Brettspiel Go oder Computerspiele – die weltbesten menschlichen Spieler haben gegen gut trainierte Maschinen keine Chance. Deep Blue bewies dies erstmals 1997, als die von IBM entwickelte Künstliche Intelligenz den Schachweltmeister Garri Kasparov besiegte. Im März 2016 gewann das System AlphaGo gegen den Südkoreaner Lee Sedol im Brettspiel Go, das als eines der anspruchsvollsten Spiele überhaupt gilt. In nur vier Monaten perfektionierte eine Künstliche Intelligenz der Firma OenAI ihre Fähigkeiten im Computerspiel Dota 2, sodass sie 2017 einige der weltbesten Profispieler in einem Turnier hinter sich ließ. Und auch in der Medizin sind die künstlichen Systeme den menschlichen Experten oft überlegen und stellen häufig die genaueren Diagnosen.
Freiheit der Wissenschaft
„Freie Wissenschaft hat einen hohen Wert für die Allgemeinheit. Denn sie bedient nicht nur die Interessen von Einzelnen. Diese Freiheit garantiert eine große Vielfalt in der Forschung. Es gibt hier in Europa und auch in den USA mehr und mehr private Forschung, die vor allem von großen Unternehmen gesteuert wird. Das kann zum Problem werden, wenn es zu viel wird. Diese Forschung dient dann vor allem den Unternehmensinteressen. Die großen Konzerne können es sich leisten, Spitzenwissenschaftler zu engagieren und ihnen beste Arbeitsbedingungen zu geben. Auf meinem Arbeitsgebiet gibt es eine große Konkurrenz zwischen der Wirtschaft und den öffentlichen Hochschulen um wissenschaftliches Personal.“
Alexandra Carpentier
von Heike Kampe