Das prekäre Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, insbesondere aus der Virologie, haben während der Coronapandemie in den Massenmedien mehrheitlich sachlich und evidenzorientiert kommuniziert, auf Dramatisierung weitgehend verzichtet und auf bestehende Wissenslücken deutlich hingewiesen. Und obwohl dies die Leitlinien guter Wissenschaftskommunikation sind, mussten die Forscherinnen und Forscher im Verlauf der Pandemie feststellen, dass sowohl Politik als auch Massenmedien mehr wollen als ‚nur‘ die Vermittlung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, was zu deutlichen Irritationen und einer Kritik an Politik und Medien geführt hat. Zu diesen Ergebnissen kommen Sprachwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in einem soeben abgeschlossenen Projekt. Dafür untersuchten Dr. Sina Lautenschläger und Prof. Dr. Kersten Sven Roth der Fakultät für Humanwissenschaften gemeinsam mit Kolleginnen der TU Darmstadt zwei Jahre lang das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien während der Coronapandemie in Deutschland.
Das Projekt mit dem Titel „Zwischen Elfenbeinturm und rauer See – zum prekären Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik und seiner Mediatisierung am Beispiel der ‚Corona-Krise‘“ wurde von November 2020 bis Dezember 2022 von der Klaus Tschira Stiftung gefördert. Innerhalb dieses Zeitraums hat das Projektteam eine große Datenbasis zusammengetragen, bestehend aus den massenmedialen Auftritten von neun besonders präsenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, unter anderem Melanie Brinkmann, Christian Drosten und Hendrik Streeck. Neben Zeitungsartikeln, Pressekonferenzen und Interviews haben sich insbesondere die Polit-Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender als passendes Analysematerial erwiesen, da hier die drei relevanten Akteursgruppen aus Politik, Wissenschaft und Medien aufeinandertreffen.
„Im Fokus des Projektes standen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, da diese quasi aus dem Elfenbeinturm, der Wissenschaftsblase, hinausgetreten sind und Wissenschaftskommunikation nun jenseits des sonst gewohnten Rahmens auf ‚rauer See‘, also im Angesicht massenmedialer und politischer Logik betreiben wollten und mussten“, so der Projektleiter Prof. Roth. Das sei vor allem darum interessant gewesen, da Politikerinnen und Politiker und mediale Vertreterinnen und Vertreter aufeinander eingespielt seien, die Forschenden jedoch als medial unerfahrene Komponente dazu kamen. Ziel der Sprachforscherinnen und -forscher war es, herauszufinden, ob und wie die Politik die Wissenschaft vereinnahmte und instrumentalisierte beziehungsweise warum und wie es seitens der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen immer wieder zu Abgrenzungen kam.
„Zum Beispiel sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Beginn der Pandemie offen mit bestehendem, aber überwindbarem Nichtwissen umgegangen; dies wurde – auch im weiteren Verlauf der Pandemie – immer wieder von der Politik dazu genutzt, Verantwortung abzugeben beziehungsweise zur Rechtfertigung fehlender politischer Maßnahmen herangezogen“, konstatiert die Projektmitarbeiterin Dr. Sina Lautenschläger von der Uni Magdeburg. „Auch in der medialen Berichterstattung wurde diese transparente Kommunikation des Nichtwissens und eines bis dato unvollständigen Wissensstandes genutzt, um die Glaubwürdigkeit und den Nutzen von wissenschaftlicher Forschung in Frage zu stellen.“
Wissenschaft trifft auf Massenmedien
Als Reaktion darauf äußerten die Forscherinnen und Forscher zunehmend Unbehagen und Frustration, so Sina Lautenschläger. „Zu Beginn der Pandemie haben die Virologinnen und Virologen primär erklärt, wie das Virus aufgebaut ist, wie es sich verbreitet und wie man sich womöglich dagegen schützen kann, gleichzeitig aber auch dargelegt, wie wissenschaftliche Forschung vonstattengeht und welche Aufgabe die Wissenschaft in dieser Pandemie hat. Das wandelte sich unserer Beobachtung nach stark im Verlauf der Zeit“, fasst die Linguistin zusammen. „Die Forschenden gingen dazu über, die Medienlogik zu bemängeln, die die virologisch-epidemiologische Komplexität nicht nur drastisch reduziert darstellte, sondern auch Machtkämpfe zwischen den einzelnen Forschenden konstruierte und in den Vordergrund stellte.“
Künftig müssten bei der Politikberatung durch die Wissenschaft klarer die unterschiedlichen Rollen und Erwartungshaltungen beider Bereiche definiert werden, so der Germanist Prof. Kersten Sven Roth. „Die Ansprüche, die zum Beispiel seitens der Politik an die Wissenschaft gestellt werden, müssen klar beschrieben werden und nicht dazu führen, Aufgaben oder gar Verantwortung auszulagern“, erklärt der Wissenschaftler.
Der in der Wissenschaft geforderte, transparente Umgang mit Nichtwissen sei für Politikerinnen und Politiker ungewohnt und schwer auszuhalten, so Roth weiter. Die Politik wolle klare Antworten, die die Wissenschaft nicht geben könne. „Insgesamt waren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ihre neue Rolle in der Pandemie und die damit verbundenen kommunikativen Anforderungen und Kommunikationssituationen vor dem Auge der Öffentlichkeit in vielen Fällen nicht vorbereitet“, so der Linguist abschließend.
„Auffällig ist, dass die Virologinnen und Virologen von Anfang an eine klare Abgrenzung zur Politik kommuniziert haben. Sie haben deutlich gemacht, dass sie forschen und Ergebnisse liefern, die Entscheidungen aber von der Politik getroffen werden“, erklärt Dr. Lautenschläger. „Dennoch diskutierten die Massenmedien darüber, wer in der Pandemie eigentlich das Sagen hätte und schrieben den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine große politische Entscheidungsmacht zu.“ Eine Tatsache, die sich laut der Linguistin vor allem in den Polit-Talkshows gezeigt habe. „In diesen wurden die Forschenden von den Moderatorinnen und Moderatoren dazu gedrängt, politische Bewertungen abzugeben.“
Im Frühjahr 2023 wird das Team mit der Grundlage der Forschungsergebnisse einen angepassten Leitfaden für Wissenschaftskommunikation erarbeiten und veröffentlichen.