Ick oder ich: Plattdeutsche Sprachlinie teilt Sachsen-Anhalt
Obwohl fast 60 Prozent der Menschen im Norden Sachsen-Anhalts sich wünschen, dass mehr für den Erhalt des Plattdeutschen getan wird, sinkt seit 1995 die Zahl der Personen, die plattdeutsch sprechen können. In der Börde, zum Beispiel, von 43 auf 26 Prozent. Das ist ein Forschungsbefund der Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seit 30 Jahren beraten hier Sprachwissenschaftlerinnen vom Bereich Germanistik die Landesregierung Sachsen-Anhalts zum Thema plattdeutsche Regionalsprache. 1990 zur Erforschung und Förderung dieser Sprache gegründet, arbeitet sie eng mit dem Landesheimatbund zusammen.
Die ick-ich-Linie
Das Niederdeutsche ist – neben dem Hochdeutschen – eine eigenständige Sprache, die im heutigen Sachsen-Anhalt seit Jahrhunderten gesprochen wird. Bis zum 16. Jahrhundert war Plattdeutsch die Muttersprache in unserer Region und auch in weiten Teilen Nordeuropas, war Handelssprache, Rechtssprache und Sprache der Diplomatie. „Auch, wenn wir Plattdeutsch heute in den Dörfern immer seltener hören, so wird es im vertrauten Kreis noch immer gesprochen“, so die Germanistin Dr. Ursula Föllner von der Arbeitsstelle. „Dabei teilt eine unsichtbare, aber hörbare Sprachlinie unser Bundesland, die sogenannte ‚ick-ich-Linie‘. Sie führt über den Harz. In Hasselfelde heißt es noch ‚ick‘, aber in Stiege schon ‚ich‘.“
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. Saskia Luther vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e. V. hat die Germanistin auch in diesem Jahr den Wettbewerb „Schülerinnen und Schüler lesen PLATT“ organisiert, pandemiebedingt in einer digitalen Variante. Darüber hinaus werden weiterhin Lehrmaterialien und Fortbildungsangebote entwickelt, Publikationen, Expertisen und Gutachten verfasst.
Ihr Engagement für das Plattdeutsche habe aber nichts mit Folklore für eine begrenzte Gruppe zu tun, so die Germanistin Föllner. Sprache sei identitätsstiftend für die Menschen in der Nordhälfte unseres Bundeslandes, sorge in Zeiten von Globalisierung für Verankerung in der Region und Mehrsprachigkeit sei immer ein Zugewinn für Erkenntnisfähigkeit. Hinzu komme der kulturelle Wert all dessen, was in plattdeutscher Sprache existiert, sei es Literatur, seien es Namen oder sei es in der Regionalsprache gespeichertes Wissen.
Plattdeutsch als Kulturerbe
Aus diesen Erkenntnissen heraus hätten sowohl der Bund als auch das Land Sachsen-Anhalt die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen unterzeichnet. Deren Ziel ist es, dass Regional- oder Minderheitensprachen als ein einzigartiger Bestandteil des kulturellen Erbes und Reichtums Europas anerkannt und geschützt werden. Die Charta legt Maßnahmen fest, die von den Mitgliedsstaaten durchzuführen sind und über deren Realisierung Bericht zu erstatten ist.
2019 gab es darüber hinaus einen Landtagsbeschluss zur Erforschung und zur Pflege des Niederdeutschen. Anfang Dezember dieses Jahres hat das zuständige Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt eine neue Regelung in Kraft gesetzt, die es Gemeinden in Sachsen-Anhalt ermöglicht, neben dem üblichen Ortsnamen auch die niederdeutsche Ortsbezeichnung offiziell zu führen. Entsprechende Anträge der Gemeinden werden durch die Arbeitsstelle Niederdeutsch geprüft, dadurch können Gemeinden auch erfahren, ob die gewünschte Bezeichnung tatsächlich sprachhistorisch im Ort verwurzelt ist.
Aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums der „Arbeitsstelle Niederdeutsch“ startete am 8. Oktober 2020 das Forschungsprojekt „Niederdeutsch in Sachsen-Anhalt“ (NiSA): Studien zu Bestand, Entwicklung und kulturell-sozialer Bedeutsamkeit des Niederdeutschen. Aktuelle Hotspot-Analysen werden mit Ergebnissen des Forschungsprojektes aus den 1990er Jahren vergleichen, um u. a. neue Erkenntnisse zu Sprachkompetenz und -gebrauch, Spracheinstellungen und Funktionen der Sprache sowie Einflüssen auf die Umgangssprache zu gewinnen. Daraus lassen sich auch sprachpolitische Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen für die Politik ableiten.
Bilder zum Download:
Bild 1 // Quelle: Jana Dünnhaupt / Universität Magdeburg // Bildunterschrift: Dr. Saskia Luther (li.) und Dr. Ursula Föllner (re.) von der Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg