Mehr als nur der „Luthereffekt“
Ende Juni trafen in einer international wie interdisziplinär ausgerichteten Tagung zahlreiche renommierte WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen aus deutschen und ausländischen Universitäten in Magdeburg zusammen, um sich mit der Reformation und ihren Auswirkungen bis in die heutige Gesellschaft unter einem dezidiert geschlechtergeschichtlichen Fokus auseinanderzusetzen. Als Beitrag der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg zum Reformationsjubiläum wurde das Thema „Glaube und Geschlecht“ erstmals in der Reformationsdekade in einer wissenschaftlichen Konferenz auf die Agenda gesetzt. Ausstellungen und Kunstprojekte hatten bereits die weibliche Seite der Reformation thematisiert, eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle von Männern und Frauen im Glauben und des Glaubens für den Alltag von Männern und Frauen fehlte bislang.
Die von Prof. Dr. Eva Labouvie von der Fakultät für Humanwissenschaften (FHW) initiierte und konzipierte sowie von Stefanie Fabian, wissenschaftliche Mitarbeiterin der FHW, organisierte dreitägige Tagung erhielt nicht nur durch Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, im Rahmen des Förderprogramms „Reformationsjubiläum 2017“ eine großzügige finanzielle Förderung. Auch die „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg“ und die Magdeburger Universität selber beteiligten sich an der Finanzierung. Die Schirmherrschaft hatten der Rektor der Otto-von-Guericke Universität, Prof. Dr.-Ing. Jens Strackeljan, und Landesbischöfin Ilse Junkermann übernommen.
Prof. Eva Labouvie, Historikerin und Geschlechterforscherin der Uni Magdeburg, und Andrea Jozwiak von der Pressestelle im Gespräch in der Magdeburger Wallonerkircher. Dort predigte Martin Luther, der - so Prof. Labouvie - nicht nur die Kirche reformierte, sondern auch Gendergeschichte schrieb
Glaube und Geschlecht früher und heute
Zum Auftakt im Kaiser-Otto-Saal des Kulturhistorischen Museums Magdeburg thematisierte Bischöfin i. R. Maria Jepsen in ihrem Eröffnungsvortrag „Die Reformation und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen auf Frauen und Männer heute – Impulse aus der Vergangenheit für die Zukunft“, ausgehend von ihrer eigenen Berufsbiografie, Entwicklungen in der evangelischen Kirche bis heute. Die 1992 zur ersten lutherischen Bischöfin weltweit gewählte Referentin nahm auch Stellung zu den ambivalenten und bedenklichen globalen Entscheidungen wie beispielsweise der Abschaffung der Frauenordination in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands. Schirmherr Prof. Dr. Jens Strackeljahn betonte die besondere Bedeutung der Genderforschung an der Otto-von-Guericke-Universität und den herausragenden Stellenwert der gesamtuniversitären Tagung „Glaube und Geschlecht“ auch für Fragen der Gegenwart.
Tagungsprogramm und ReferentInnenliste spiegeln sowohl den besonderen Anspruch der VeranstalterInnen als auch die hochkarätige Besetzung der Themen mit ausgewiesenen KennerInnen der Reformations-, Kirchen- und Religionsgeschichte, der Rechts- und Kulturgeschichte oder der Islamwissenschaften. Deren VertreterInnen aus Deutschland, England, der Schweiz, Österreich oder den Niederlanden diskutierten sowohl den Forschungsstand der letzten Jahre und eruierten Desiderata, gingen aber auch der Frage nach der Bedeutung von Glaube und Geschlecht in der heutigen Gesellschaft und in verschiedenen Glaubensgemeinschaften nach:
- So präsentierte die in Deutschland im vergangenen Jahr mit dem Gerda-Henkel-Preis ausgezeichnete Oxford-Historikerin Prof. Dr. Lyndal Roper, die aus Israel angereist war, Thesen aus ihrer jüngst erschienenen, vielbesprochenen Lutherbiografie „Der Mensch Martin Luther“.
- Prof. Dr. Heide Wunder aus Kassel und Prof. Dr. Claudia Opitz-Belakhal aus Basel, beide renommierte Genderforscherinnen und Historikerinnen der Frühen Neuzeit, entwickelten brandneue Thesen zum Genderdiskurs im Kontext der Reformation und ihren Folgen.
- Prof. Dr. Margit Eckholt, Theologin von der Universität Osnabrück, setzte sich intensiv mit der brisanten Debatte um Ämter für Frauen in der katholischen Kirche auseinander.
- Die aus Wien angereiste Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Birgit Heller stellte in vergleichend-systematischer Perspektive die Geschlechterrollen und -ordnungen in den verschiedenen Welteligionen vor.
- Der Vortrag von Prof. Dr. Ina Wunn von der Universität Hannover zu „Islam und Geschlechterrollen im Wandel“ spannte den thematischen Bogen zu den aktuellen Bezügen zwischen „Glaube und Geschlecht“, die mit den Migrationsbewegungen nach Europa kamen.
- Die sehr lebhafte interdisziplinäre Diskussion zum Abschluss des dritten Konferenztages nahm dies zum Anlass, die Frage nach „Glaube und Geschlecht“ nochmals nicht nur aus historischer und reformatorischer Perspektive, sondern auch unter dem Aspekt der Relevanz für gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen zu diskutieren.
Sammelband vereint Beiträge der Tagung
Neben der Einsicht, dass die Geschlechterfrage religions- und gesellschaftsübergreifend eine bis in die Gegenwart mehr als entscheidende Kategorie für Glaube und Alltag, Rollenzuschreibungen und Bildung von Frauen und Männern bildet und damit über Lebenswege und -chancen bestimmt, wurde schnell klar, dass die wissenschaftliche Diskussion noch lange nicht abgeschlossen ist, angesichts der neuesten Entwicklungen aber dingend und interdisziplinär sowie epochenübergreifend weitergeführt werden muss. Die Tagungsgäste tun dies in einem wissenschaftlichen Sammelband, der ihre Beiträge und intensiven Diskussionen vereinen, neue Impulse geben und zu einer weiterführenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem wichtigen Thema anregen will. Die Tagung habe, so das vorläufige Fazit der WissenschaftlerInnen, gerade durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung neue Perspektiven eröffnet und vor allem über die Luther-Zentriertheit des Reformationsjubiläums hinaus Möglichkeit zu einem hochkarätigen, intensiven und fruchtbaren Austausch zwischen einer recht männlich dominierten Reformationsforschung und der Geschlechterforschung geboten – Angebote, recht seltene Angebote zumal im Jahr des Reformationsjubiläums 2017, zum Neudenken und Überdenken. Die vielen bislang eingegangenen positiven Reaktionen von TagungsteilnehmerInnen, Gästen, ReferentInnen und ModeratorInnen zeigen, dass dies zusammen mit einer exzellenten Logistik in hervorragender Weise gelungen ist.
Stefanie Fabian